Einladung zum Kaffee

"Verdammt, tut das gut, wenn der Schmerz nachläßt !" schimpfte Marc, als er sich humpelnd umdrehte, um zu schauen, wer ihm den Einkaufswagen in die Ferse gerammt hatte. "Oh, mein Gott, tut mir das leid ..." stammelte die Frau mit hochrotem Kopf und versuchte gleichzeitig, betroffen auszusehen und ein versöhnliches Lächeln zu produzieren.
"Naja, ist ja schon gut. Kann ja mal passieren." sagte Marc und wollte sich schon wieder abwenden. "Ist gar nicht gut", erwiderte sie, "ich sollte wirklich mehr darauf achten, was ich mache und wohin ich gehe." Doch Marc hatte keine Lust auf eine weitere Unterhaltung und brummte nur noch "Es tut ja auch schon fast nicht mehr weh." Aber sie ließ nicht locker. "Eine Wiedergutmachung müssen Sie mir zugestehen. Ich lade Sie zum Kaffee ein." Marc, der einsah, daß er sie nicht anders loswerden würde, willigte ein. Was war schon dabei, sich im Stehcafe eine Tasse ausgeben zu lassen. Doch dann überrumpelte sie ihn völlig. "Morgen Nachmittag, 15 Uhr bei mir. Ich heiße Miriam und hier ist meine Adresse." Mit diesen Worten steckte sie ihm eine Visitenkarte in die Jackentasche und verschwand, noch bevor er reagieren konnte.

"Also, ich bin gar nicht begeistert davon. Du kennst sie doch nicht einmal." quengelte Patrick nun schon zum vierten mal. "Nanu, bist Du etwa eifersüchtig - auf eine Frau ?" fragte Marc mit sarkastischem Unterton in der Stimme. "Patrick, jetzt hör' mir bitte mal zu ", versuchte er nochmals zu erklären, "sie hat mich zum Kaffee eingeladen und weiter nichts. Ich werde da hingehen und in spätestens zwei Stunden hast Du mich ja wieder. Falls nicht, kannst Du ja von mir aus die Bereitschaftspolizei alarmieren. Aber nur, wenn es junge, gutaussehende Beamte sind." fügte er noch grinsend hinzu. Doch Patrick wollte nicht aufgeben. "Ich bin einfach nervös wegen dieser seltsamen Vorkommnisse in der letzten Zeit. Diese anonymen Anrufe bei denen sich nie jemand meldet ..." "... stammen wahrscheinlich von einem heißblütigen Verehrer von Dir, dem beim Klang Deiner Stimme einfach die Worte fehlen. Und jetzt hör auf, hier so sinnlos rumzuplappern und gib mir lieber einen Kuß. Ich muß los, sonst komme ich zu spät."

"Ah, da sind Sie ja." Mit diesen Worten gab sie der Wohnungstür einen Stoß, damit Marc eintreten konnte. "Bitte kommen Sie doch gleich hier ins Wohnzimmer. Suchen Sie sich einen Stuhl aus. Ach, Ihre Jacke können Sie mir geben. Schön, daß Sie gekommen sind. Wie geht es Ihrem Fuß ? Alles wieder in Ordnung ? Meine Güte, ich rede und rede, ich muß mich ja anhören wie eine Schwachsinnige" "Dem Fuß geht es wieder blendend", grinste Marc, "und vielen Dank für die Einladung."

Nachdem beide am Kaffeetisch Platz genommen hatten und mit Kaffee und Kuchen versorgt waren, versuchte Marc etwas über seine Gastgeberin herauszufinden. "Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht gerade unschuldige Männer mit Einkaufswagen mißhandeln ?", fragte er lächelnd. "Ich schreibe Kurzgeschichten. Aber bitte, können wir uns nicht duzen ? Ich finde dieses "Sie" einfach albern. Wir sind doch etwa gleich alt." "Na klar, von mir aus." antwortete Marc. "Und welche Art von Geschichten schreibst Du ?" "Krimis. Mit viel Blut und Leichen und so - halt aus dem Leben gegriffen ..." setzte sie mit einem hintergründigen Lächeln hinzu. "Zur Zeit schreibe ich an einer Story über eine Frau, die sich in einen Mann verknallt hat und ihn unbedingt ins Bett bekommen will. Mit allen Mitteln" "Klingt ja noch nicht sehr kriminell", meinte Marc.
"Moment", sagte Miriam und verschwand in der Küche. Beim Zurückkommen hielt sie die rechte Hand hinter dem Rücken. Als sie wieder neben Marc saß meinte sie nur "Wäre es in Deinen Augen krimineller, wenn sie versuchen würde, ihn unter einem Vorwand in ihre Wohnung zu locken, um ihn dann hiermit zu überzeugen ?" Mit diesen Worten streckte sie die Hand nach vorne und hielt Marc ein Fleischermesser an die Kehle.

Dieser zuckte zurück und versuchte etwas verkrampft zu lächeln. Irgendwie konnte er sich mit dieser Art von Humor nicht anfreunden. "Ja - ich glaube, das wäre etwas anderes", sagte er leicht nervös. "Weißt Du, oft sind meine Geschichten wirklich aus dem Leben gegriffen." erzählte Miriam weiter. "Diese Sache mit dem Messer ... das war eine sehr gute Freundin von mir." Bei diesen Worten rückte sie ein Stück näher an Marc heran. "Ach wirklich ?" Marc warf einen Blick Richtung Ausgang. "Wie ist diese Geschichte denn ausgegangen ?"
"Nun, ich glaube, er hatte anfangs keine rechte Lust dazu, ihrem Wunsch nachzukommen. Aber auf Dauer konnte er sich ihren ... Argumenten nicht verschließen. Sie bekam was sie wollte. Ansonsten hätte er ihre Wohnung wohl nicht mehr verlassen." Bei diesen Worten strich sie liebevoll mit den Fingerspitzen über die Klinge des Messers. "Was würdest Du denn in solch einer Situation machen ?", fragte sie und sah Marc direkt in die Augen. Da fiel ihm auf, daß ihre Augen, die vorher leuchtend blau gewesen waren, eine dunklere, schiefergraue Färbung angenommen hatten. Bevor er noch antworten konnte stieß sie das Messer mit einem kraftvollen Hieb senkrecht mitten in die Tischplatte.
"Das ist aber nicht sehr gut für das Holz.", versuchte Marc einen etwas müden Scherz. "Weiche mir bitte nicht aus, Liebling", erwiderte sie mit leicht gereiztem Unterton "Was würdest Du machen, wenn Du in solch einer Situation wärest?"

Marc fing langsam an zu schwitzen. Diese Einladung gefiel ihm überhaupt nicht mehr. Hätte er doch nur auf Patrick gehört. "Da hätte sie wohl ein Problem", sagte er, "ich bin erstens nicht zu haben und stehe zweitens nicht auf ... Frauen." Sie rückte abermals ein Stück näher. Ihr Gesicht war jetzt direkt vor seinem. Ihr Atem roch nach Kaffee. "Hast Du es denn überhaupt schon mal mit einer Frau versucht ?" Jetzt wurde es Marc endgültig zu viel. "Nein. Und ich habe es auch sicherlich nicht vor." "Das ist aber schade", sagte sie mit einem verklärten Gesichtsausdruck und warf einen Blick in Richtung Messer, das noch immer im Tisch steckte.

Nun war es für Marc höchste Zeit, den Rückzug anzutreten. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. "Meine Güte, schon so spät. Ich muß los, mein Freund wartet auf mich." Sie versuchte mit versteinertem Gesichtsausdruck ein Lächeln. "Natürlich. Wenn Du erwartet wirst ..." "Tut mir ja auch leid", log Marc "aber ich muß nun wirklich gehen. Ich wünsche Dir noch viel Erfolg mit Deiner neuen Kurzgeschichte." "Danke. Nur weiß ich noch nicht, wie sie ausgehen wird. Die Vorlage, die mir meine Freundin geliefert hat, ist ja scheinbar nicht sehr realistisch." An der Tür fragte sie "Stört es Dich, wenn ich Dich trotzdem zum Abschied umarme ?" Marc, der von dieser Bitte nicht unbedingt begeistert war, erlaubte es ihr widerwillig. Viel zu spät fiel sein Blick auf den Kaffeetisch. Auf den länglichen Spalt in der Mitte der Platte, den das Messer hineingerissen hatte. Das Messer, das jetzt dort fehlte.

Der Schmerz war unvorstellbar. Marc fuhr mit einem Aufschrei zurück und sah im Spiegel der Garderobe den Griff des Messers in groteskem Winkel aus seinem Rücken herausragen. Auf seiner Jacke entstand ein roter Fleck, der immer größer wurde. Miriam zog das Messer mit einem Ruck aus der Wunde heraus und bevor Marc reagieren konnte, stieß sie es ihm von vorne in die Brust. Er spürte, wie die Klinge ihren Weg zwischen den Rippen hindurchfand. Marc taumelte zurück.

Miriam betrachtete verträumt den Griff, der jetzt aus Marcs Brust herausragte. "Jetzt hat meine Geschichte doch noch ein Ende bekommen", sagte sie lächelnd. "Es ist selbst für den Autor immer wieder überraschend, welche Wendungen solch eine Story nehmen kann." Marc, der den Geschmack seines Blutes auf der Zunge hatte, versuchte zur Tür zu kommen, doch Miriam versperrte ihm den Weg. "Aber Liebling", meinte sie zärtlich, "Du wirst mich doch nicht verlassen wollen ?" Er spürte, wie seine Kräfte mehr und mehr nachließen. Miriam beobachtete neugierig, wie er langsam auf die Knie sank. Dann kniete sie sich neben ihn und streichelte liebevoll sein Gesicht. "Das verstehst Du doch sicher", flüsterte sie, "wenn ich Dich nicht haben kann, darf Dich auch kein anderer haben. Schließlich bist Du für mich bestimmt. Das weiß ich, seit ich Dich zum ersten mal gesehen habe."
Marc sah eine schwarze Spirale, die näher und näher kam. Als er in diesem pulsierenden Schwarz zu versinken begann, glaubte er noch, Patricks Stimme zu hören, die seinen Namen rief. Und dann ging die Welt für ihn mit einem lauten Knall unter.

"Ich hoffe, in Zukunft bist Du bereit, wenigstens ab und zu mal auf mich zu hören", sagte Patrick mit vorwurfsvoller Stimme. Aber der erleichterte Blick, mit dem er Marc musterte verriet, daß ihm eigentlich ganz und gar nicht nach Vorwürfen zumute war.

Marc, der sich in seinem Krankenhausbett immer noch nicht richtig bewegen konnte, lächelte. "Ist ja schon gut. Und ich werde mich auch nie beschweren, wenn Du mir weiterhin nachspionierst. Schließlich war dies meine Rettung. Wenn Du nicht meinen Schrei gehört und daraufhin die Wohnungstür aufgebrochen hättest, wäre diese Sache wohl ganz anders ausgegangen."
"Sie muß Dich schon seit Wochen beobachtet haben", meinte Patrick. "In ihrer Wohnung fanden sich Unmengen Fotos von Dir. Und bei der Überprüfung ihrer Telefongespräche wurde festgestellt, daß sie auch hinter all den anonymen Anrufen steckte, die wir bekamen." "Und sie lebt wirklich nicht mehr ?", fragte Marc. "Nein", bestätigte Patrick. "Als sie mich in die Wohnung stürmen sah, rief sie mir zu 'Auch Du wirst uns nicht mehr trennen können. Wir gehören zusammen !' Und dann zog sie das Messer aus Deiner Brust und stieß es sich selbst in die Kehle. Ein unappetitlicher Anblick. Das kann ich Dir sagen." Patrick schüttelte sich.
"Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Aber nun ist das Wichtigste, daß Du möglichst schnell wieder gesund wirst und zu mir nach Hause kommst, okay ?"