Die dumme Bedrohung

Aus den Aufzeichnungen des Dr. Wasdenn

"Ich hasse es", rief Schwerschock Halm mit aller ihm zur Verfügung stehenden Verachtung aus. Und nochmals: "Ich hasse es ! Was glaubt der eigentlich, wen er vor sich hat ?" Und mit mürrischem Gesichtsausdruck reichte er mir den Brief, den ihm unsere Zimmerwirtin, Frau River, gebracht hatte, als wir gerade unser Frühstück beendeten. "Ein Bote hat dies für Sie abgegeben, Sir." hatte sie nur gesagt und war wieder gegangen.

Ich nahm das Schriftstück, das Halm so sehr erregte, an mich. Bevor ich jedoch dazu kam, auch nur einen Blick darauf zu werfen, schimpfte er weiter. "Wenn er glaubt, daß ich mich durch solch eine dummdreiste Drohung einschüchtern lasse, dann kennt er mich aber schlecht !" "Halm," versuchte ich ihn zu beruhigen, "vielleicht verstehen Sie das alles hier ja auch falsch." Mehr konnte ich nicht sagen. "Falsch ? Was gibt es denn hier falsch zu verstehen, Wasdenn ? Ich glaube, Sie haben den Brief nicht richtig gelesen." Womit er auch völlig recht hatte. Ich war ja noch nicht einmal dazu gekommen ein einziges Wort davon zu erhaschen. Mit grimmigem Gesichtsausdruck stopfte sich Halm seine Lieblingspfeife. Ich nutzte die Gelegenheit, um endlich das anstößige Schriftstück zu lesen.

Brief

Ich legte den Brief auf den kleinen Tisch neben meinem Sessel und warf Halm einen fragenden Blick zu. "Der Fall von Gosvenor Grange ? Was ist dort um Himmels Willen geschehen ?" "Leider kann ich Ihren Wissensdurst im Moment noch nicht befriedigen, mein Freund", antwortete er mit einem Schulterzucken, "Aber Inspektor LaStrada von Scotland Yard hat seinen Besuch angekündigt. Und ich müßte mich sehr täuschen, wenn die Schritte auf der Treppe nicht schon von ihm stammten."

Wie vermutet öffnete sich gleich darauf die Tür zu unserem kleinen Reich und LaStrada polterte herein. Die dunklen Ringe unter seinen Augen zeugten von einer schlaflosen Nacht. "Ich bin ja so froh, daß Sie Zeit für mich haben, Mr. Halm", sagte er zur Begrüßung. Und in meine Richtung gewandt "Natürlich wäre ich auch für Dr. Wasdenns Mitarbeit an diesem Fall dankbar." Halm bat unserem Besucher mit einer Handbewegung einen freien Sessel an. "Ich nehme an, Sie kommen wegen des Mordfalles in Gosvenor Grange ?" fragte er, von einer Wolke Pfeifenrauch umgeben. LaStrada sah ihn verwundert an. "Wie können Sie denn das schon wissen ? Ich selbst wurde erst heute Nacht dorthin gerufen und ich bin sicher, daß vor mir niemand zurück nach London kam, der darüber informiert war." Halm lächelte, wie ein Varietékünstler, der soeben einen Zaubertrick präsentiert hat."Das war nicht weiter schwer, LaStrada. Wasdenn, würden Sie dem Inspektor bitte die Nachricht zeigen, die ich heute erhalten habe ?"

Ich reichte den Brief hinüber. LaStrada las ihn durch und verzog dabei sein Dackelgesicht zu einem Grinsen. "Wie mir scheint, war ich wohl doch nicht der Erste, der aus Gosvenor Grange zurückkehrte." Halm nickte. "Auf jeden Fall würde ich es jetzt begrüßen, wenn Sie uns den Fall schildern könnten, LaStrada. Sie glauben doch wohl nicht, daß ich mich von solch einer Drohung einschüchtern lasse."

"Gerne, Halm. Sie kennen doch sicher den Unterhausabgeordneten Eugenius Picklefield ?" Halm nickte und auch mir war der Name nicht unbekannt. Picklefield hatte sich bei einigen seiner Amtskollegen in letzter Zeit durch kritische Äußerungen in der Öffentlichkeit ziemlich unbeliebt gemacht. LaStrada fuhr fort: "Nun, dieser Eugenius Picklefield wohnt - oder vielleicht sollte ich besser sagen: wohnte - seit einem halben Jahr in Gosvenor Grange. Durch seine Heirat mit der Tochter des Großindustriellen Sir Charles war er sehr vermögend geworden und hatte den Landsitz dort erworben. Letzte Nacht nun erreichte uns ein Notruf vom zuständigen Ortspolizisten. Ein Unglück sei geschehen und wir sollten so schnell wie möglich kommen. Als wir Gosvenor Grange erreichten, bot sich uns ein Bild des Schreckens. Picklefield lag in seinem Arbeitszimmer. Sein Oberkörper wies insgesamt zwölf Messerstiche auf. Außerdem war er enthauptet, und ihm war sämtliches Blut entzogen worden."LaStrada schüttelte sich, als er daran zurückdachte.

"Selbstmord scheidet damit wohl aus", bemerkte ich. Halm warf mir einen raschen Blick zu. "Sagen Sie das nicht, Wasdenn. Erinnern Sie sich noch an den Fall, den Sie als "Studie in himmelblau" in Ihren Unterlagen vermerkt haben ? Der Fall, der im Herrenclub meines Bruders Beincraft Halm begann und in höchsten Regierungskreisen endete ? Auch dort konnte ich ohne jeden Zweifel die Möglichkeit nachweisen, daß sich der Hausherr mit einer Nylonschnur selbst ganz einfach das Leben genommen haben könnte !" "Halm, wir leben im Ende des 19. Jahrhunderts ! Sie wissen genauso gut wie ich, daß Nylon erst in über 30 Jahren erfunden werden wird." "Ach was, das sind doch keine Argumente", meinte er beleidigt. "Aber Halm, es gibt nunmal noch kein Nylon. Oder haben Sie schon welches gesehen ?" "Wasdenn, haben Sie schonmal einen chinesischen Pagodentempel gesehen ?" Ich schüttelte den Kopf. "Sehen Sie, Doktor, und dennoch gibt es sie." Und wieder einmal konnte ich mich seiner zwingenden Logik nicht entziehen.

"Aber jetzt zurück zu unserem Fall", sagte Halm LaStrada zugewandt. "Wenn mein Erzfeind, Professor Moritat nicht damals an den Armenbachfällen zu Tode gekommen wäre, dann könnte solch eine barbarische Todesart durchaus auf sein Wirken hinweisen." "Was ich schon immer wissen wollte", fragte LaStrada, "Wie starb der Professor eigentlich ?" "Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, Inspektor, lockte er mich zu den Armenbachfällen, um mich ein für alle mal zu beseitigen. Zu oft hatte ich ihm seine verbrecherischen Pläne durchkreuzt." LaStrada nickte. Halm erzählte weiter. "Wir standen also beide auf dem schmalen Pfad oberhalb der Wasserfälle. Moritat zückte seine gefürchtete Waffe, das dreiklingige Florett und stürmte damit auf mich los. Da geschah es. Eines seiner Schuhbänder löste sich, er stolperte und fiel in die tosenden Fälle. Das war das Ende von Professor Moritat."

LaStrada war sichtlich beeindruckt. "Um jetzt endgültig wieder auf Gosvenor Grange zurückzukommen", wechselte Halm das Thema, "Wo war eigentlich die Frau des Verstorbenen ?" "Mrs. Picklefield weilt zur Zeit auf dem Gut Ihres Vaters. Gerüchten zufolge war die Ehe alles andere als glücklich. Angeblich wollte sich sich sogar wieder von dem despotischen Picklefield trennen." Halm nickte. "Das paßt alles sehr gut in das Bild, das ich mir bereits von diesem Fall gemacht habe", bestätigte er, "Ein paar Fragen habe ich noch, LaStrada. Ich bin sicher, daß ich Ihnen dann die Lösung präsentieren kann." Der Inspektor nickte "Schießen Sie los, Halm." "War Eugenius Picklefield sportlich tätig ?" LaStrada nickte. "Er übte mehrere Sportarten aus, sofern ihm seine Arbeit im Unterhaus Zeit dafür ließ." "Wo befanden sich die Mordwaffen ?" "Hier sprechen Sie einen sehr seltsamen Punkt an, Mr. Halm. Der Tote war wohl ein Sammler von ausgefallenen Waffen. In seinem Arbeitszimmer befinden sich mehrere Vitrinen mit verschiedenen Schuß-, Stich-, Schlag- und sonstigen Waffen. Der Mörder brauchte nicht einmal seine eigene Waffe mitzubringen. Keine der Waffen trägt Blutspuren. Und doch wurde anhand der Klingenform ein Dolch in einer der Vitrinen zweifelsfrei als derjenige identifiziert, mit dem der Leiche die Stichwunden beigebracht wurden. Neben der Leiche lag ein mächtiges Buschmesser, mit dem wohl der Kopf abgetrennt wurde. Allerdings ist im gesamten Arbeitszimmer keinerlei Blut zu finden." "Letzte Frage: Die Tür zum Arbeitszimmer war wohl verschlossen ?""Halm, Sie sind ein Hellseher ! Woher wissen Sie das ? Die Tür war abgeschlossen, der Schlüssel steckte von innen."

Halm nickte. "Was schließen Sie also daraus, LaStrada ?" "Wenn ich vielleicht den Fall so rekonstruieren dürfte, wie ich ihn mir vorstelle ?" fragte der Inspektor. Halm bat ihn mit einer Handbewegeung, fortzufahren. "Nun, Picklefield muß den Täter gekannt haben. Laut Aussage des Butlers hat dieser niemandem die Tür geöffnet. Also muß der Hausherr selbst seinen Mörder hereingelassen haben. Sie begeben sich in das Arbeitszimmer. Dort entwendet der Unbekannte heimlich den Dolch und das Buschmesser. Danach gehen die beiden an einen im Moment noch unbekannten Ort, wo der Mörder seinem Opfer das gesamte Blut entzieht, ihm die Messerstiche beibringt und ihn anschließend enthauptet. Zum Schluß legt er die Leiche samt Buschmesser wieder in das Arbeitszimmer, gibt den Dolch zurück in die Vitrine und verläßt das Haus so unbemerkt wie er gekommen ist." Halm schüttelte den Kopf. "Nein, nein, LaStrada. Ihre Betrachtung weist noch verschiedene Schwachstellen auf. Warum sollte der Mörder den Dolch wieder aufräumen, das Buschmesser aber liegenlassen ? Wie ist er aus dem Arbeitszimmer herausgekommen ? Die Türe war von innen verschlossen. Und wo bringen Sie in Ihrer Theorie den Brief an mich unter ?" "Ganz einfach, der Mörder will verhindern, daß Sie sich in den Fall einmischen. Wahrscheinlich hat er von Ihrem Ruf gehört und geht davon aus, daß sich Scotland Yard an Sie wendet." Halm lächelte. "Vielen Dank für das Kompliment, LaStrada, aber jetzt werde ich Ihnen beschreiben, was wirklich in Gosvenor Grange vor sich ging.

Wenn Sie mit logischer Betrachtungsweise vorgehen und alles ausschließen, was nicht möglich ist, dann muß das, was übrig bleibt - so unwahrscheinlich es auch erscheinen mag - die Wahrheit sein !
Zuerst müssen wir uns die Situation des Eugenius Picklefield vor Augen halten. Mit seiner politische Karriere geht es - dank seiner Äußerungen in der Öffentlichkeit - abwärts. Seine Frau will sich von ihm scheiden lassen. Entgegen der allgemeinen Meinung hat er keinerlei eigenes Privatvermögen. Die Trennung bedeutet für ihn sowohl den finanziellen als auch den gesellschaftlichen Ruin. Schließlich hat sein Schwiegervater großen Einfluß, den er nach einer Trennung sicherlich gegen ihn geltend machen wird." Halm zündete sich seine Pfeife, die bei seinen Ausführungen erloschen war, erneut an. "Sehen Sie, Wasdenn, wohin uns das Ganze immer deutlicher führt ? Ich hatte Sie davor gewarnt, die Möglichkeit eines Selbstmordes vorzeitig auszuschließen. Hier haben wir nämlich die besten Voraussetzungen dafür. Das einzige Hindernis, daß ihn noch davon abhält, den Freitod zu wählen, ist sein übersteigertes Ego, wegen dem sich ja bereits seine Frau von ihm entfremdet hat. Doch plötzlich kommt ihm eine - wie er glaubt - geniale Idee. Er wird seinen Selbstmord als Mord vortäuschen. Und zwar nicht nur als gewöhnlichen Mord, sondern als eine Tat, die als unlösbar in die Kriminalgeschichte eingehen wird. So wird sein Name unsterblich sein. Er wußte, der Einzige, der seinen Plan durchschauen konnte, bin ich. Deshalb versuchte er, mich mit dem Brief, den er selbst an mich schickte, aus diesem Fall herauszuhalten. Dies beweist allerdings nur seine mangelnde Menschenkenntnis."
"Woher wollen Sie wissen, daß der Brief von Picklefield stammt ?" unterbrach LaStrada. "Inspektor, Sie selbst haben mich darauf gebracht. Als Sie bemerkten, daß niemand vor Ihnen aus Gosvenor Grange zurückgekommen sein konnte. Da ich natürlich alle Fahrpläne im Kopf habe, konnte ich für mich diese Aussage bestätigen. Der erste Zug, der noch vor Ihnen in London eintraf, war eine Vorortbahn, die über Littlepiddle-Gisington fährt. Und selbst diese fuhr bereits gestern in Gosvenor Grange zu einem Zeitpunkt ab, zu dem der angebliche Mord noch gar nicht passiert war."

LaStrada nickte beeindruckt. Halm fuhr fort. "Picklefield hat den Plan also gefaßt, die Ausführung ist nur noch eine Kleinigkeit. Seine Frau ist außer Haus. Der Butler in seinem Zimmer. Der Abgeordnete begibt sich in sein Arbeitszimmer, verschließt die Tür und greift den Dolch. Damit sticht er sich zwölf mal in Brust und Rücken. Danach legt er die Waffe wieder in die Vitrine zurück und schlägt sich mit letzter Kraft mit dem Buschmesser selbst den Kopf ab. Da er - wie Sie wissen - sehr sportlich ist, gelingt ihm dies mit einem Hieb." Halm lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück. "Tja mein lieber LaStrada, Sie haben der Kleinigkeit, daß eine der Waffen wieder ordentlich aufgeräumt war und die andere nicht, einfach zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei war diese Tatsache der Schlüssel zur Lösung."

Ich hatte einen Einwand. "Halm, wie erklären Sie sich die Tatsache, daß die Leiche keinerlei Blut enthielt ?" "Wasdenn, Sie als Mediziner müßten doch eigentlich wissen, daß manche Menschen an Blutarmut leiden. Hier hatten wir eben einen besonders schlimmen Fall davon."