Da stand Philip nun.
Es war schon immer sein Traum gewesen, am Heiligen Abend in London über die Tower Bridge zu laufen und dabei "Silent Night" zu singen. Warum es gerade dieses Weihnachtslied war, das eigentlich so gar nicht zu London passen wollte, vermochte er auch nicht zu sagen. Nun hatte sich dieser Wunsch also erfüllt. Und dies auf eine ganz andere Art, als er es sich ausgemalt hatte. Er stand am Geländer in der Mitte der Brücke und versuchte, die Themse in der Dunkelheit unter sich auszumachen. Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn die kalten Fluten des Flusses mit einem leisen Geräusch über ihm zusammenschwappten. Wie die Kälte des Wassers langsam jede Wärme aus seinem Körper ziehen würde, bis er schließlich nichts mehr fühlte. Bis er all das hier hinter sich gelassen hatte.

Oder gab es doch noch einen anderen Weg ? Vergebens versuchte er, sich daran zu erinnern, wann er zum letzten mal fröhlich gelacht hatte, wann er seine Krankheit zum letzten mal vergessen konnte. Es wollte ihm nicht mehr einfallen. Viel zu lange schien es schon her zu sein. Damals ... Konnte es sein, daß das wirklich erst in diesem Sommer war, als er die vernichtende Nachricht von seinem Arzt erfahren hatte ? Das Todesurteil verpackt in vier Buchstaben. Diese perverse Auslegung des Wortes "positiv". Von jenem Moment an sah er die Welt nur noch durch einen Schleier, der alles, wofür er vorher gelebt hatte, unwirklich erscheinen ließ.

Philip's Hand umschloß das Geländer so fest, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. Er würde nicht auf eine medizinische Sensation aus irgendeinem Labor warten. Oder darauf, daß die Krankheit mit ihm das gleiche machte wie mit Daniel. Der hatte zwar bis zum Schluß gekämpft, aber nie eine reelle Chance gehabt. Wie alle anderen, die bereits gestorben waren.
Nein, es war Zeit, jetzt und hier ein Ende zu machen.

Eine Bemerkung seiner Kollegin Christine kam Philip in den Sinn: Laut Statistik ist die Selbstmordrate an Weihnachten am höchsten.
Christine, die Statistikerin. Christine, die Zahlengläubige. Welche Überlebenschance würde ihre Statistik ihm wohl geben, wenn er jetzt nicht sprang ? Wieviel Zeit bliebe ihm noch ? Ein Jahr, zwei Jahre ? Ach was, er hatte diese Frage im letzten halben Jahr wieder und wieder durchgekaut und war zu keinem Ergebnis gekommen. Weshalb sollte er gerade jetzt nochmals damit anfangen ? Die Entscheidung war gefallen, der Entschluß endgültig.

Philip kletterte über das Geländer. Hinter ihm fuhr ein alter, klappriger Ford vorbei, ohne daß der Fahrer Kenntnis von ihm genommen hätte. Doch halt, scheibar hatte er doch etwas bemerkt. Die Bremslichter des Autos glühten auf und es wurde an den linken Fahrbahnrand gelenkt. Ein Mann stieg aus, der sich Philip fast beläufig langsam näherte. Er machte keinerlei Anstalten, den jungen Mann jenseits des Geländers von seinem Vorhaben abzuhalten. Er stellte sich nur ein paar Schritte entfernt an das Geländer und fing an, einen Apfel zu essen, den er aus seiner Jackentasche gezogen hatte. Philip war irritiert. Mit Zuschauern hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Es verwirrte ihn auch, daß der andere nicht mal versuchte, ihn am springen zu hindern. Der stand einfach da und schaute ihn an.

"Ich bin Chris", sagte der Fremde. Philip, dem der Sinn im Moment wirklich nicht nach neuen Bekanntschaften stand, erwiderte nichts. So standen sie vielleicht fünf Minuten schweigend nebeneinander. Schließlich hielt es Philip nicht mehr aus und er fragte gereizt: "Möchtest Du mir jetzt vielleicht noch zusehen, wenn ich springe ?" "Wird sich wohl nicht vermeiden lassen - wenn Du springst." "Warum sollte ich es nicht tun ? Gib mir auch nur einen wirklich überzeugenden Grund", gab Philip trotzig zurück. "Um solch einen Grund zu finden, müßte ich erst einmal wissen, warum Du überhaupt springen willst" Mit resigniertem Blick antwortete Philip. "AIDS. Kannst Du Dir vorstellen, was diese vier Buchstaben für jemanden bedeuten, der mit gerade mal 23 Jahren mitten im Leben steht ?" "Und Du meinst, wenn Du jetzt da runter springst, wird Dein Leben einfacher ?" Jetzt explodierte Philip fast "Toll, danke, verarschen kann ich mich alleine auch recht gut. Dafür brauche ich Dich wirklich nicht. Hast Du keine Familie, die auf Dich wartet ? Ich wäre jetzt nämlich gerne alleine." "Ich kann mir nicht vorstellen, daß an Weihnachten jemand gerne alleine ist", antwortete Chris, "und wenn ich sehe wie Du hier stehst und bereit bist, etwas wegzuwerfen, dessen Wert Du noch nichtmal annähernd kennengelernt hast - nein, ich glaube nicht, daß Du gerne alleine wärst." "Ach, Du hast ja keine Ahnung", entgegnete Philip. "Ich habe mein ganzes Leben lang davon geträumt, Weihnachten in London zu feiern. Und wann erfülle ich mir diesen Traum ? Jetzt, um dieses Leben noch halbwegs würdevoll zuende zu bringen. Ich kann das einfach nicht. So zu tun, als wäre nichts, während in mir eine Zeitbombe tickt."

"Weißt Du eigentlich, warum die Menschen Weihnachten feiern ?",fragte Chris. Philip, durch diesen Themawechsel völlig aus dem Konzept geworfen, stotterte herum "Äh ja .... natürlich .... das ist doch der Geburtstag Christi - und was hat das nun mit mir zu tun? " "Nun, ich finde es seltsam, daß Du schon Dein ganzes Leben lang einen Geburtstag auf eine besondere Weise feiern willst - und wenn Du es endlich tust, dann möchtest Du den gleichen Tag zu Deinem Todestag machen. Ich weiß ja nicht, wie Du darüber denkst, aber ich würde mich bedanken, wenn jemand an meinem Geburtstag von der Tower Bridge springen würde."

Philip war irritiert. Was ging das diesen Fremden eigentlich an ? Und plötzlich fühlte er sich gar nicht mehr so sicher. Die kalte Dunkelheit, die der Fluß unter ihm ausstrahlte wirkte bedrohlich. Philip spürte, wie ihm die Tränen kamen. Dabei war das letzte, das er jetzt wollte, losheulen. Noch dazu vor einem Mann, den er zum ersten mal ein seinem Leben gesehen hatte. Doch er konnte es nicht mehr zurückhalten. Die ganze Verzweiflung, die sich im vergangenen halben Jahr in ihm aufgestaut hatte, kam nun zum Ausbruch.
Er bemerkte nicht, wie Chris hinter ihn trat und ihn mit sanfter Gewalt dazu brachte, wieder auf die sichere Seite des Geländers zu klettern. Er nahm auch nicht zur Kenntnis, daß er auf dem Befahrersitz des alten Ford platznahm und Chris ihn zu sich nach Hause brachte.

Dort angekommen fing Philip an, zu reden. Er erzählte von seiner Kindheit, von seinen Eltern, von seinem Job. Er erzählte von seinen Träumen, von der Hoffnungslosigkeit, die ihn umfangen hatte, seit er von der Krankheit wußte. Davon, daß seine Freunde zwar zu ihm hielten, er sich aber selbst mehr und mehr zurückgezogen hatte.
Noch während er erzählte, ging draußen die Sonne auf. Und dieser Sonnenaufgang am Weihnachtsmorgen war der wohl intensivste, den Philip jemals erlebt hatte. Er konnte fühlen, wie die Strahlen durch die Fensterscheibe hindurch seine Haut wärmten. Er fühlte, wie mit dieser Wärme neuer Lebenswille in ihn einströmte und die Verzweiflung mehr und mehr zurückdrängte. Philip wurde bewußt, das dies sein ganz persönliches Weihnachtsfest sein würde. Er feierte nicht irgendeinen Geburtstag, sondern er selbst kam sich in diesem Moment wie neu geboren vor.

Erst als die ältere Frau das Zimmer betrat bemerkte Philip, daß Chris nicht mehr da war. Die Frau betrachtete Philip mit mitfühlendem Blick. "Wo ist Chris ?", fragte Philip. "Darf ich Ihnen zuerste eine andere Frage stellen ?", ant- wortete die Frau. Als Philip nickte, atmete sie tief ein und sah im direkt in die Augen. "Haben Sie in der vergangenen Nacht versucht, sich das Leben zu nehmen ?"
Philip zuckte zusammen. Woher konnte sie das wissen ? Aber natürlich. Von Chris. "Hat Chris Ihnen das gesagt ?", wollte er wissen.

"Mein Sohn Chris ist tot. Er starb vor 5 Jahren bei dem Versuch, einen Selbstmörder daran zu hindern, am Heiligen Abend von der Tower Bridge zu springen. Sie stürzten beide ins Wasser und ertranken. Das passierte genau am 30. Geburtstag von Chris. Daher hatte er ja auch seinen Namen. Er kam am 24. Dezember zur Welt."
Sie senkte den Blick und erzählte weiter. "Ein Jahr nach diesem ... Unfall fand ich am Weihnachtsmorgen hier im Zimmer meines Sohnes einen jungen Mann vor, der versucht hatte, am Abend vorher sein Leben selbst zu beenden. Er erzählte, daß Chris ihn davor bewahrt und hierher gebracht hatte. Zuerst konnte ich ihm nicht glauben. Wer hätte das auch getan. Aber je länger wir uns unterhielten, desto sicherer war ich, daß Chris das, was ihm im Jahr vorher nicht geglückt war nun doch noch geschafft hatte. Und seitdem weiß ich, daß an jedem Weihnachtsmorgen hier in diesem Zimmer jemand ist, der kurz davor stand, etwas aufzugeben, dessen Wert er wohl nie richtig zu schätzen gelernt hatte: sein Leben." Mit diesen Worten stand sie auf und verließ das Zimmer.

Da saß Philip nun. Mit einer Geschichte, die er nicht glauben konnte, obwohl er sie selbst erlebt hatte. Auf jeden Fall war ihm nun bewußt geworden, daß für ihn noch lange nicht alles zu Ende war. Er konnte wieder hoffen ....