Alpträume

Mit einem Aufschrei fuhr Daniel schweißgebadet hoch. Er hatte schon wieder diesen Alptraum gehabt, der ihn schon seit Wochen quälte. Doch so intensiv wie diesmal war er noch nie gewesen. Die Panik, die Angst, das Blut. Daniel versuchte, sich zu entspannen, um seinen Puls wieder auf das normale Tempo zu reduzieren. Er bemühte sich, seine Gedanken in klare Bahnen zu lenken.

Dieser Traum fing jedesmal gleich an. Er verließ wie jeden Tag sein Büro, um zur U-Bahn zu gehen. Da fiel ihm diese Frau auf, die lässig an einen schwarzen Porsche gelehnt vor dem Bürogebäude stand und ihn mit ihren grünen Augen fixierte. Sie winkte ihm locker einmal aus dem Handgelenk zu und wie im Traum (wie passend, es WAR ja ein Traum) änderte er seine Richtung und ging zu ihr. Sie öffnete die Beifahrertür für ihn mit den Worten "Ich bin Helena. Ich bringe Dich zu Lubic. Er wartet schon auf Dich." und er stieg ein. Er wußte nicht, warum er eigentlich einstieg. Er kannte keinen Lubic. Sie glitt geschmeidig auf den Fahrersitz und brauste in selbstmörderischem Tempo los. Daniel wußte nicht, wie lange diese Fahrt dauerte. Während der ganzen Fahrt sprach sie kein einziges Wort. Als sie den Wagen endlich zum Stillstand brachte, war es bereits dunkel.

Beim Aussteigen bemerkte Daniel, daß sie auf einem alten Fabrikgelände standen. Über dem ganzen Ort schwebte ein monotoner Klang, eine Art rhythmisches Trommeln und Stampfen. Helena führte Daniel zu einer verschlossenen Stahltür. Auf ihr Klopfen hin glitt die Tür in die Wand zurück und gab den Durchgang zu einer breiten Treppe frei, die nach unten führte. Helena deutete nach unten. "Dort ist Lubic. Geh jetzt." Mit diesen Worten schob sie ihn durch die Öffnung und trat selbst wieder einen Schritt zurück. Die Tür schloß sich hinter ihm, so daß er nun völlig alleine auf der obersten Treppenstufe stand.

Daniel stellte fest, daß dieser Rhythmus, den er draußen schon gehört hatte, von hier unten kommen mußte. "Daniel" Er hörte, wie in einem der unteren Räume sein Name gerufen wurde. Irgendetwas trieb ihn dazu, dort hinunterzugehen. Langsam, Stufe für Stufe näherte er sich - ja was oder wem eigentlich ? Er begann zu schwitzen. Er wollte sich umdrehen, die Treppe wieder hinauflaufen und von hier verschwinden. Und dennoch ging er weiter vorwärts. Unten angekommen folgte er dem Gang um eine Linkskurve und fand sich in einem großen Raum wieder, der von einigen Fackeln mehr schlecht als recht erleuchtet wurde. Im Zentrum des Raumes saß eine Gruppe von Leuten in schwarzen Gewändern um einen undefinierbaren, großen Gegenstand im Kreis herum. Einer von ihnen erhob sich, als Daniel eintrat. "Wir haben auf Dich gewartet, Daniel.", sagte er,"Ich bin Lubic." "Was soll das heißen - gewartet ? Und woher kennen Sie mich überhaupt ?" "Ganz einfach, Daniel. Wir warten bereits seit Jahren auf Deine Ankunft. Du alleine bist der Auserwählte. Du bist unserer Führer. Du bist die Reinkarnation. Du bist Zotar."

Bei diesen Worten begann sich der Rhythmus des stampfenden Trommelns zu verändern. Er wurde schneller, eindringlicher. Lubic hob die Hand und Daniel erkannte, daß er auf der Handfläche ein gelbliches Pulver hatte. Noch bevor Daniel reagieren konnte, blies im Lubic das Pulver ins Gesicht. Und das Trommeln wurde abermals schneller. Plötzlich konnte Daniel das Geräusch fühlen. Es begann, ihn zu beherrschen. Die anderen Mitglieder der Gruppe begannen, im Rhythmus des Trommelns langsam den Namen zu rufen, den Lubic Daniel gegeben hatte. "Zo-tar Zo-tar Zo-tar" Daniel wurde von der gesamten Atmosphäre mitgerissen. Er wußte nicht, was das für ein Pulver war, das er eingeatmet hatte. Er spürte nur, daß sein eigenes Ich mehr und mehr in den Hintergrund trat und er von etwas anderem beherrscht wurde. Und dann wußte er gar nichts mehr.

Als er wieder zu sich kam trug er ebenfalls ein schwarzes Gewand und stand in der Mitte des Kreises vor dem Gegenstand, den er nun als eine Art Altar erkannte. Auf dem Altar lag Helena. Oder vielmehr das, was von ihr noch übrig war. Er selbst hatte in der rechten Hand ein blutverschmiertes Messer und in der linken etwas, das er nicht sofort erkennen konnte. Klebrig, fleischig, schwer. Als er sah, worum es sich dabei handelte, stieß er einen nahezu unmenschlichen Schrei aus. Es war das Herz, das er scheinbar aus der Frau auf dem Altar herausgeschnitten hatte.
Das war zu viel für ihn. Er stolperte rückwärts aus dem Kreis dieser offensichtlich Verrückten heraus. Lubic starrte ihn mit einem fanatischen Gesichtsausdruck an und schrie immer wieder "Zotar ist zurück ! Zotar ist zurück !"

Daniel versuchte, aus diesem Raum des Wahnsinns zu entkommen. Jedoch standen zwischen ihm und der Tür, durch die er den Raum betreten hatte, die Jünger Zotars. Also blieb ihm nur die Flucht durch eine kleinere Tür an der gegenüberliegenden Wand. Er gelangte in ein kleines Zimmer, in dem völlige Dunkelheit herrschte. Daniel tastete sich vorwärts und fühlte eine weitere Tür. Hinter sich hörte er, wie ihm Lubic nachrief "Laß' es sein, Daniel. Du kannst Deiner Bestimmung nicht entkommen !" Ohne nachzudenken, stolperte Daniel durch die zweite Tür. Und dann noch eine und noch eine und noch eine. Bevor er sich dessen bewußt war, hatte er sich in diesem stockdunklen Kellerlabyrinth verirrt. Ihm war, als höre er von allen Seiten gleichzeitig die Jünger Zotars auf sich zukommen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Puls raste. Seine Hände klebten noch vom Blut Helenas. Plötzlich spürte Daniel, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Mit einem Schrei fuhr er herum und ...
... wachte mit dem gleichen Schrei in seinem Bett auf. Ein Satz brannte noch in seinem Gedächtnis. "Du kannst Deiner Bestimmung nicht entkommen"

Nachdem er es geschafft hatte, Puls und Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, entschied Daniel, daß an Schlaf sowieso nicht mehr zu denken war und er genausogut aufstehen konnte.

Im Büro erzählte er seiner Kollegin Jasmin von den täglich immer wiederkehrenden Alpträumen. "Das solltest Du nicht unterschätzen", meinte sie. Frag lieber mal bei einem Spezialisten nach. Ich kenne da jemanden. Wenn Du willst, mache ich einen Termin für Dich." Doch darauf hatte Daniel keine Lust. "Ich finde, wir sollten das jetzt nicht so sehr überbewerten. Sicher, es ist nicht sehr angenehm, Nacht für Nacht diese Träume zu haben, aber deshalb gleich zum Psychoklempner ... ich weiß nicht so recht." "Ich habe es nur gut gemeint. Sag bescheid, wenn Du Deine Meinung änderst." erwiderte Miriam mit leicht beleidigtem Gesichtsausdruck.
Irgendwie wollte Daniel die Arbeit an diesem Tag nicht so recht von der Hand gehen, so daß er den Feierabend fast nicht abwarten konnte. Am Ausgang traf er nochmals auf Miriam "Du weißt bescheid," sagte sie, "ich mache jederzeit einen Termin für Dich." Damit ging sie vor ihm durch die Drehtür.

Als Daniel den Weg zur U-Bahn einschlagen wollte, fiel ihm wieder der Satz aus seinem Alptraum ein "Du kannst Deiner Bestimmung nicht entkommen !" Er schüttelte den Kopf, um dieses lästige Hirngespinst loszuwerden.

Und dann sah er sie. Sie stand vor dem Bürogebäude, lässig an einen schwarzen Porsche gelehnt und fixierte ihn mit ihren grünen Augen. Sie winkte ihm einmal locker aus dem Handgelenk zu.