Vorgeschichte :

Am Anfang klingt alles ganz simpel: Man liest im aktuellen Programm der örtlichen Volkshochschule, daß diesmal auch eine Ägypten-Reise geplant ist. Man freut sich und meldet sich an.
Zu den Vorbereitungen gehört unter anderem eine Hepatitis-Impfung (Laut meinem Hausarzt reicht Hepatitis A - wenn ich im Urlaub nicht wie ein Raubritter abhause - ha ha ha. Ich liebe Ärzte mit Humor. Ich bin 35. Als ob man in diesem Alter noch Sex hätte).
Danach freut man sich auf die Reise und harrt der Dinge, die da kommen. Und damit ist der einfache Teil aber auch schon erledigt.

Am Abend des vorletzten Tages (Freitag) vor der Abreise (Sonntag) räumt man seine Dinge zusammen, die man mitzunehmen gedenkt. Als da wären zum Beispiel: Sonnenmilch, Walkman, einige T-Shirts, Reiseschecks, viele Kugelschreiber (da sollen Ägypter ganz wild drauf sein), eine Ersatzunterhose (okay, vielleicht auch eine mehr), Adapter für Steckdosen, Reisepaß ... moment mal - Reisepaß ? Der steckt doch im Filofax. wo er hingehört. Als der Paß nach dem dritten Filofax-Durchsuchen nicht auftaucht und auch ein vierter Anlauf erfolglos bleibt, beginnt ein leichtes Gefühl von Panik aufzusteigen.

Aber nein, halt, Ruhe, nachdenken. Wo haste das Ding zum letzten mal bewußt gesehen ? Das war vor einem guten Monat, als ich das Ablaufdatum überprüft habe. Gut, das ist doch schonmal ein Anfang. Und jetzt ganz ruhig und systematisch die Wohnung durchsuchen. Wohnzimmer, Eßzimmer, Schlafzimmer, Bad, noch'n Bad, Küche.
Was soll das ? Wieso stehe ich jetzt vor dem offenen Kühlschrank ? Da ist nie was drin. Geschweige denn mein Paß. Die Coladose, die alleine im obersten Fach steht, grinst mich hämisch an. "Du findest den Paß nie", meint sie. Ich schließe den Kühlschrank. Diese Dose nehme ich keinesfalls mit in Urlaub. Falls ich fahre.
Die leichte Panik ist wieder da. Ich brauche Beruhigung. Ich brauche Zuspruch. Ich brauche Trost. Ich rufe Mia an. Von wegen Trost. "Kann es sein, daß Du unterbewußt gar nicht mit nach Ägypten willst und deshalb den Paß verloren hast ?" Das fragt sie mich. Ich biete ihr ein paar unterbewußte Ohrfeigen an. Außerdem besteht sie darauf, daß ich noch meine Kollegin im Büro anrufe und meinen Schreibtisch durchsuchen lasse. War mir vorher klar, daß das nichts bringt. Aber wenigstens ist Mia jetzt beruhigt.
Doch ich stehe nach wie vor ohne Reisepaß da.
Immerhin kann ich jetzt mit einem Gerücht aufräumen: Es bringt gar nichts, die Wohnung mehrfach nach einem verlorengegangenen Gegenstand zu durchsuchen. Man findet ihn grundsätzlich nicht. Das einzige was entsteht, ist Chaos und Unordnung. Und noch mehr Panik. Naja, dafür finde ich das Zeugnis, das mir mein letzter Chef ausgestellt hat, nachdem ich gekündigt hatte. Das war auch längere Zeit verschwunden. Allerdings glaube ich nicht, daß mich die Ägypter damit einreisen lassen. Ich verbringe den restlichen Abend damit, mich durch das RTL-Programm von meinem Paß-Problem ablenken zu lassen. Es heißt doch immer: Wenn man aufhört, darüber nachzudenken, dann fällt es einem von selbst ein. Quatsch. Wenn man abends aufhört, darüber nachzudenken, kann man nachts nicht schlafen.

Der nächste Morgen (Samstag):

Wow, wer ist denn das da im Spiegel ? Irgendwie hat sich das Paßproblem mitsamt fehlendem Schlaf negativ auf mein Aussehen ausgewirkt. Okay, wenigstens sehe ich nun meinem Paßbild halbwegs ähnlich, aber das nützt gar nichts, da (wie wir uns erinnern) eben dieses Bild mitsamt Paß verschwunden ist und bleibt.
Immerhin habe ich mich in der Nacht (irgendwann zwischen drei und vier Uhr) mit mir darauf geeinigt, erstmal die Paßbehörde am Flughafen anzurufen. Dort erklärt mir ein sehr freundlicher Mann vom Bundesgrenzschutz, daß er glaubt, daß es in Ägypten Probleme mit den Ersatzpässen gibt, die sie ausstellen. Aber ganz sicher ist er nicht. Da ich ab München fliege, könnte ich beim dortigen Grenzschutz nochmals nachfragen.
Zwischendurch klärt mich ein Anruf beim zuständigen Reisebüro darüber auf, daß der Spezialist mit jahrelanger Ägyptenerfahrung von Paßproblemen keine Ahnung hat. Aber immerhin sind sie sehr freundlich.
Okay, ich wähle die Nummer in München. Der Mann dort ist sehr kompetent und sehr freundlich. Er bestätigt die Aussage seines Nürnberger Kollegen. Mit Ersatzpaß von Grenzschutz nix Einreise in Ägypten. Die leichte Panik kehrt mit Verstärkung zurück. Immerhin bekomme ich noch den Tip, daß Ersatzpässe, die von den normalen Paßbehörden ausgestellt werden, wohl in Ordnung gehen. Der Mann hat Humor. Am Samstag Vormittag in einem deutschen Rathaus einen Paß beantragen.
Um mich abzulenken, gehe ich erstmal zur Fotografin. Sollte ich irgendwen davon überzeugen können, mir ein amtliches Dokument auszustellen, brauche ich auf jeden Fall ein Foto von mir. Oder von dem, der mir heute aus dem Spiegel entgegenschaut. Wer ist das eigentlich ? Karl Dall ?
Wenn die Tante nur etwas schneller auf den Auslöser drücken würde. Wie lange schafft es der Durchschnittsmensch schon, seine verquollenen Augen gewaltsam aufzureißen und dabei nett zu lächeln ? Ich glaube, ich habe da einen neuen Rekord aufgestellt.
Immerhin habe ich jetzt Fotos.
Und damit bewaffnet rufe ich bei der einzigen Bekannten an, die ich in unserem Rathaus habe.
Nachdem ich mein Problem lang und breit und grauslich ausgeschmückt erklärt habe, meint sie, daß sie mir gerne helfen würde, aber leider hat sie die Zwillinge (Enkel ???) und kann deshalb überhaupt nicht aus dem Haus. Während ich noch überlege, wieviel ein professioneller Babysitter für eine halbe Stunde inclusive An- und Abfahrt kosten würde, gibt sie mir die Telefonnummer ihrer Kollegin, die mir bestimmt auch gerne helfen können sollten ... täte ... oder so. Wenn ich sie erreiche.
Also gut, wähle ich halt wieder. Mein Telefon guckt mich schon ganz verstört an, weil es heute so strapaziert wird. Es klingelt bei der Kollegin. Dann meldet sich - der Anrufbeantworter. Meine Nerven flattern. Eine halbe Stunde später starte ich einen neuen Versuch und verfluche gleich darauf herzhaft alle Anrufbeantworter dieser Welt. Nochmals eine halbe Stunde später. Wieder nur der Anrufbeantworter. Wer hat diese Dinger eigentlich erfunden ? War das etwa nötig ? Nur gut, daß ich im Moment zu niemandem freundlich sein muß. Es würde mir wirklich sehr schwer fallen.
Abermals eine Stunde später. Während ich mir bereits Gedanken mache, ob man Anrufbeantworter per Voodoo außer Gefecht setzen kann, geht die Kollegin persönlich ans Telefon. Ich erschrecke und fange erstmal an zu stottern. Aber gleich darauf habe ich mich wieder in der Gewalt und beschreibe meine Lage. Wie erwartet, komme ich auch hier extrem ungelegen. Wer wartet schon darauf, am Samstag Vormittag Ersatzpässe ausstellen zu dürfen. Aber ich bin fest entschlossen, mich nicht abwimmeln zu lassen. Ich lege die gesamte Verzweiflung der letzten Stunden in meine Stimme. Und siehe da: Sie bietet mir an, zu helfen. Ich solle meine Paßbilder (wie GUT, daß ich die jetzt habe) und meine Geburtsurkunde (wo hab' ich die schon wieder ?) in einen Umschlag packen und in den Rathaus-Briefkasten werfen. Wenn sie's gegen Abend reinschieben kann, meldet sie sich bei mir. Ich bedanke mich vielmals und lege auf. Ich könnte sie küssen.
Stattdessen rufe ich bei Mia an. Sie soll mein Glücksgefühl mit mir teilen. Und siehe da: Mia freut sich wirklich mit mir. Die Sonne scheint, die Vögel draußen zwitschern, die Welt ist wieder bunt.
Wo ist die Geburtsurkunde ?
Glücklicherweise dort, wo sie hingehört. Eigentlich albern. Wenn ich nicht geboren wäre, könnte ich keinen Paß beantragen. Behörden halt. Aber heute kann mich nichts mehr erschüttern.
Jetzt warte ich nur noch darauf, daß mein Paß fertig ist.
Inzwischen überlege ich, wieviele Hosen man für acht Tage Ägypten braucht. Keine Ahnung. Also gut, Koffer auf, Kleiderschrank auf, rüberschaufeln. Im letzten Moment bremst mich der Gedanke an die 20 Kilo Höchstgewicht. Ich stelle den Koffer leer auf die Waage und erschrecke. Über sechs Kilo. Wann erfindet endlich mal jemand einen leichten Hartschalenkoffer ? Nein, stattdessen bauen sie noch mehr Anrufbeantworter. Ich hasse das. Warum darf eigentlich der, der sich im Flugzeug immer mit 115 Kilo Lebendgewicht stöhnend in den Sitz neben mir quetscht (und dessen Arm dann grundsätzlich wild transpirierend zur Hälfte in meinen Sitz reinhängt) genausoviel Gepäck mitnehmen wie ich mit meinen gerade mal 60 Kilo ? Kann mir wohl auch keiner erklären. Die Welt ist einfach ungerecht.
Nun gut, treffe ich eben zähneknirschend meine Auswahl.
T-Shirts habe ich schon. Hemden ... wie sehen die Dinger denn aus ? Wo ist das Bügeleisen ? Auch noch Fleißarbeit. Welch ein Tag. Ein Blick auf die Uhr. Gleich vier Uhr nachmittags. Wann mein Paß wohl fertig ist ? Ich mache keinen Schritt ohne das schnurlose Telefon. Jetzt erst mal einen Tee. Gar nicht so leicht, mit dem Hörer in der Hand Wasser zu kochen. Reagiere ich etwa über ? Nö, ich bin nur besorgt. Ich stelle mir vor, wie die Kollegin vom Rathaus aus anruft und ich höre das Telefon nicht. Irgendwie beunruhigend. Muß das Wasser so laut blubbern ? Ich rufe vom Handy aus bei mir an. Doch, das Telefon funktioniert. Scheinbar hat sie wirklich noch nicht angerufen.
Hoffe ich zumindest. Kurz nach fünf und ich bin inzwischen sogar mit dem Bügeln fertig. Immer noch kein Anruf. Bin ich nervös ? Das ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Hysterisch trifft die Sache schon eher.
Sechs Uhr. Ein Engel ruft an. Ich kann meinen Paß im Rathaus abholen. So ähnlich muß sich Maria vor zweitausend Jahren gefühlt haben, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Das Gefühl ist unbeschreiblich.
Kurze Zeit später halte ich tatsächlich meinen neuen Paß in den Händen. Gut, er ist nicht rot, sondern grün. Naja, vielleicht habe ich Glück und erwische bei der Einreise einen farbenblinden Ägypter. Und hoffentlich fällt ihm nicht auf, daß da ein Foto von Karl Dall eingeklebt ist. Meine Güte, sah ich heute Morgen wirklich so aus ? Und so bin ich aus dem Haus gegangen ? Ich muß verzweifelt gewesen sein. Aber das ist jetzt alles egal. Ich habe Geld, ich habe Reiseschecks, ich habe fast fertiggepackt, ich habe einen Reisepaß. Jetzt kann es hoffentlich wirklich losgehen.

Auf nach Ägypten !